Hannah Wolf

Himmel/kein Himmel

Fotoserie, achtteilig, Digitalprint, 2020

1.Preis des Internationalen Willi Münzenberg Forum, 

Fotografie als Waffe, 2021

erschienen in: Camera Austria, Ausgabe 149, 2020

Text: Radek Krolczyk


Wer fehlt, bleibt unsichtbar. Dass viele fehlen aber, wissen wir genau. Wir lesen von ihnen und wir sehen ihre Bilder an anderer Stelle. Wir lesen von ihnen in den deutschen Nachrichten, dort sehen wir ihre Bilder. An anderer Stelle erfahren wir von ihren Geschichten, erfahren wir von ihren Berufen, die sie nun nicht mehr ausüben dürfen. An anderer Stelle erfahren wir von ihren Verhaftungen und schweren Vorwürfen, die von der Staatsanwaltschaft gegen sie erhoben werden. An anderer Stelle erfahren wir von den Prozessen, die gegen sie geführt werden und von den seltsamen Umständen dieser Prozesse erfahren wir auch. An anderer Stelle erfahren wir auch von ihrer Haft, und davon, dass nur siebzig Kilometer westlich der Stadt, in einer anderen Stadt, in Silivri, sich Europas größte Haftanstalt befindet. Zehntausend von denen, die fehlen, und von denen in Istanbul jedes Bild fehlt, befinden sich in Silivri. Dass es in Istanbuls Öffentlichkeit kaum Bilder von denen gibt, die fehlen, ist auffällig, - denn so groß, so verschieden und so unüberschaubar ist doch diese Stadt. Die Bilder dieser Stadt wuchern und verdorren überall scheinbar unkontrolliert, doch über die Bilder derer die fehlen, behält ihre Verwaltung die volle Kontrolle. In den Nächten sprühen politische Aktivisten Parolen an die Mauern der Häuser in in den Quartieren von Beyoğlu und Kadiköy, und machen etwas sichtbar. In den Morgenstunden werden ihre Parolen von Polizisten wieder überstrichen. So entstehen an den Wänden viele ungleichmäßige schwarze Flecken. Es sind ausgelöschte Parolen, und gleichzeitig Bilder, die von der Angst des Staates erzählen. Viele von denen, die fehlen, weil sie in Gefängnissen wie dem in Silivri gefangen gehalten werden, fehlen in verschiedenen Städten der Türkei, sie fehlen auch in Istanbul. Das bedeutet, sie fehlen jemandem in Istanbul, wahrscheinlich sind es einige Jemande. Nahezu jeder in Istanbul wird jemanden kennen, der fehlt; nahezu jedem in Istanbul wir jemand fehlen. In Istanbul also muss es Gedanken an jene geben, die fehlen, aber es gibt von ihnen nur sehr wenige öffentliche Bilder.  


Vermehrte Verhaftungen und vermehrtes Verschwinden wiederholten sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder periodisch. Verhaftungen und Verschwinden schwollen an zu Wellen und nahmen wieder ab, ohne die Verhafteten und Verschwundenen in gleichen Wellen wieder herzugeben. An die zahlreichen Verhaftungen bei den Protesten im Gezi Park 2013, an die zahlreichen Verhaftungen nach dem missglückten Putsch 2016 kann man sich heute noch gut erinnern, sie sind noch sehr nah an unserer Gegenwart. Von den Gezi Protesten bleiben unzählige Bilder. Es sind die Bilder der unbeteiligten, vorübergehenden jungen Frau im roten Kleid, der Polizisten gezielt Reizgas ins Gesicht sprühen, es sind die Bilder des stehenden, schweigenden Mannes auf dem Taksim, aus dem viele stehende, schweigende Personen werden. Diese Bilder aber haben in einer Stadt wie Istanbul keinen Raum, an dem sie öffentlich stattfinden können. Nicht heute, und schon 2013 nicht, während der Proteste. Die Übertragung der Nachrichten von den Protesten wurden im Fernsehen unterbrochen und anstelle von Bildern der Proteste und Bildern der Polizeigewalt, zeigte das türkische Staatsfernsehen Bilder von Pinguinen. Mit den Pinguinen werden die Bilder von den Protesten ausgelöscht, und gleichzeitig Bilder, die von der Angst des Staates erzählen, produziert. 


In den Straßen hinter dem Taksim finden an den Samstagen Demonstrationen für die Freilassung von Gefangenen statt. Auf den Demonstrationen werden die Bilder derer, die fehlen gezeigt. Diese Demonstrationen sind zwar erlaubt, werden aber von der Polizei abgeschirmt, so dass sie und ihre mitgeführten Bilder schließlich nahezu unsichtbar bleiben. Die schwarzen Polizeiketten löschen die Bilder der Demonstration aus und schaffen gleichzeitig ein neues Bild. Es ist das Bild einer Übermacht, die sich gegen eine Minderheit glaubt, schützen zu müssen. Am Gebäude des Vereins für Menschenrecht, gegenüber des französischen Gymnasiums, vor dem die wöchentlichen Demonstrationen stattfinden, hängt an den Samstagen immer ein Transparent, auf dem die Freilassung Gefangener gefordert wird. Mit den Samstagen, den Demonstrationen und der Polizei verschwindet es dann wieder nahezu ungesehen.

 



In den Straßen hinter dem Taksim bleiben gelegentlich doch einige kleinere Gegenbilder in der Öffentlichkeit und man sieht an den Wänden politische Parolen und Plakate. Man sieht mit Schablonen gesprühte Aufrufe zum Istanbul Pride, ein Schriftzug nur und kleinere Sterne. Man sieht im September noch Plakate für den 1. Mai, darauf eine dunkle Rückenfigur, die die Faust erhebt. Es sind bloß Reste von Plakaten und Reste von Rückenfiguren, die ihre Fäuse erheben. Zwischen den Rückenfiguren mit erhobenen Fäusten steht ein junger Mann in Zivil, in den Händen hält er eine kleine Maschinenpistole. Hinter ihm, also in seinem Rücken, liegt der Eingang zu einer Polizeistation. Gleich gegenüber der Polizeistation und des jungen Mannes in Zivil mit seiner kleinen Maschinenpistole liegt der Eingang zu einem Cafe mit schwarz rotem Schild. Der Eingang umgeben von dunklen Rückenfiguren mit erhobenen Fäusten. Betreiben wird das Café von einem Kollektiv, es heißt 26A, das A im Kreis. Der junge Mann in Zivil mit der kleinen Maschinenpistole hört den Abschluss der Carmina Burana von Carl Orff, die aus dem Café herausschallt. Der junge Mann in Zivil mit der kleinen Maschinenpistole riecht den Duft von Omelette, der aus dem Café herausströmt. Würde der junge Mann in Zivil mit seiner kleinen Maschinenpistole in das Café hineingehen, könnte er in einer der Zeitschriften die man dort kaufen kann lesen, von denen, die fehlen, von ihren Berufen, die sie nicht mehr ausüben dürfen, von ihren Verhaftungen und von den  Prozessen, die gegen sie geführt werden. 


Die ganz großen Bilder legen sich über die Stadt. Sie legen sich sanft, sie schmiegen sich an, sie wehen im Wind, sie decken zu, sie nehmen das Licht, sie ersticken. Die wirklich großen Bilder bewegen sich flexibel; man findet sie auf Planen oder Stoff. Vor Wahlen und an Nationalfeiertagen werden die großen Bilder größer; sie legen sich dichter über die Stadt und lassen alle anderen Bilder unwichtig erscheinen und klein. Das größte aller Bilder ist die Fahne der Türken, in einem Rot die weite Fläche, darauf der Halbmond, dann noch der Stern. Zu den letzten großen Wahlen 2018, bei denen sowohl das Parlament als auch der Präsident gewählt wurde, verdeckten rote Fahnen den Himmel über dem breiten Tarlabaşı Boulevard. Selbst der Himmel wurde so zum Teil des Vaterlandes und trug mit Stern und Halbmond seine eigenen vaterländischen Gestirne. Türkische Fahnen waren auch über die Fassaden ganzer Häuserblocks gespannt und verdeckten so die Fenster. Immer findet sich irgendwo in den Straßen ein Händler, der die roten Nationalfahnen in Größen für den Hausgebrauch mit sich schleppt. Es scheint, als wollten sie einem möglichen Mangel an roten Nationalfahnen zuvorkommen. Es scheint so, als gehörte die rote Nationalfahne neben den anderen Straßenwaren, wie Taschentüchern, Wasserflaschen und gegrillten Maiskolben zu den Dingen des ständigen Gebrauchs. Am 23. April, dem Feiertag der nationalen Souveränität, der gleichzeitig auch Feiertag des Kindes ist, marschieren ganze Schulklassen mit roten Nationalfahnen über der Schulter und roten Nationalfahnen in den Händen auf dem Taksim Platz auf. Dort findet man Jahr für Jahr umringt von begeistertem Publikum eine Bühne, auf der Schulkinder in tarnfarbenen Uniformen marschieren, salutieren und Liegestützen machen. Die rote Fahne mit dem Halbmond und dem Stern umfängt die Bürger ihres Landes schon sehr früh.


Zum Wahlkampf verhängen Fahnen mit Portraits des Präsidenten den Himmel über den Boulevards und die Fassaden vielstöckiger Häuser. Zum Wahlkampf verhängen auch die Fahnen mit Portraits der Kandidaten des Präsidenten den Himmel über den Boulevards und die Fassaden vielstöckiger Häuser. Die Portraits des Präsidenten sieht man im nächsten Wahlkampf wieder und hat sie im vorigen Wahlkampf auch schon gesehen. Die Portraits der Kandidaten des Präsidenten wechseln von Wahlkampf zu Wahlkampf. Es gibt kein beständigeres Portrait, als das des Präsidenten. Eine leuchtende Glühbirne ist das Zeichen seiner Partei. Während der Wahlkämpfe leuchten am Himmel über den Boulevards statt Halbmonden und Sternen die Glühbirnen. Wenn der Präsident einmal aufgehört hat, Präsident zu sein, verschwindet auch seine Glühbirne. Die Portraits der Gegenpräsidenten und ihrer Kandidaten verhängen nicht den Himmel über den Boulevards dieser Stadt. Man findet sie auf kleineren Kreuzungen der volkstümlichen Viertel auf Plakaten und auf Fahnen. Eines der Zeichen der Gegenpräsidenten, das ist ein Regenbogen, der sich von einer Hand in die andere spannt. Ein anderes Zeichen eines anderen Gegenpräsidenten besteht aus Sonnenstrahlen, an deren Enden man Pfeilspitzen sieht. Die Sonnenstrahlen mit ihren Pfeilspitzen schießen von links nach rechts. Die Zeichen, die Regenbogen und die Sonnenstrahlen, sieht man auf kleinen, farbigen Wimpeln. Diese Wimpel verlaufen strahlenförmig von den Fassaden der umliegenden Häuser zur Mitte einer Kreuzung oder eines Platzes. Die Gegenpräsidenten gehen, wenn der Präsident verbleibt. Die Zeichen er Gegenpräsidenten überdauern alle Gegenpräsidenten selbst. Sie überdauern aber auch den Präsidenten.         


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